Klangwelten in d-moll

 

Mozarts Requiem und das Klavierkonzert KV 466 in der Heiliggeistkirche Heidelberg

 

Stellen Sie sich einfach einmal vor, sie sind reich und erwerben ein altes Haus in einer großen Stadt. Voller Stolz gehen Sie an die Restaurierung des Gebäudes heran, es ist ein wunderbarer Bau aus der Barockzeit, ein wenig verwohnt zwar, aber durchaus akzeptabel. Sie wollen bald einziehen. Der Zustand ist gut und es gibt nur wenige Dinge zu tun. Internetanschluss, ein neues Bad, ein paar Leitungen. Der Vorbesitzer hat das Gebäude gepflegt - und nicht nur er alleine: lückenlos reicht die Liste der Eigentümer bis ins 13. Jahrhundert zurück. Aber halt! Es war doch ein Barockgebäude, ein gut erhaltenes dazu. Die Periode des Barock lag im 17. und 18. Jahrhundert. Dieser Widerspruch wird von einem Handwerker gleich noch bestärkt: Unter dem Stuck im ersten Stock seien gotische Maßwerkfenster aufgetaucht, Arbeit von großer Qualität, dazu auch gut erhalten. Ob man nicht gleich die ganze Wand freilegen sollte? Schon geht es weiter: im Keller sind spätromanische Bögen entdeckt worden. Der ganze Bau ist in Wahrheit ein mittelalterliches Kunstwerk, so scheint es Ihnen nun. Schicht für Schicht wird freigelegt. Sie kommen aus dem Staunen nicht mehr hinaus. Alle sind begeistert: würde man die barocken Teile entkernen und das Dach entfernen, käme ein ganz anderes Haus heraus, ein Torso zwar, doch eine Rekonstruktion wäre nicht unmöglich. Sie entschließen sich. Weg mit dem barocken Überbau, heraus mit dem Kern! Fehlende Teile werden rekonstruiert. Man ist schließlich heutzutage verdammt nahe dran an der Originaltreue. Wohnen kann man nun nicht mehr in diesem Denkmal. Sie bleiben wo sie sind und eröffnen ein Museum.

 

Ist nicht genau dies mit Mozarts Requiem geschehen? Aus dem liebenswert-vertrauten Gebäudeumriss des Architekten Franz Xaver Süßmayr wurde der Kern des ersten Baumeisters Wolfgang Amadeus Mozarts freigelegt und fehlende Architekturteile passend ergänzt. Der Leiter des Unternehmens war Franz Beyer aus München. Dreimal hat er an dem Gemäuer des Requiems Hand angelegt - 1971, 1979 und 2004. Immer wurde es dabei weniger mit der eigentlichen Bausubstanz.

 

Hier sind wir bei einem Dilemma für einen Dirigenten des Requiems angelangt: Er muss wählen zwischen der überkommenen Version mit ihren Macken und Fehlern und der redigierten Fassung des Restaurators, gut gemeint und im Falle Beyers nicht schlecht gemacht. Aber irgendwie unbefriedigend, immer noch. Ein zweites Problem: die Balance. Mozarts Musiker spielten auf Instrumenten, die schlichtweg leiser waren als ihre heutigen lärmenden Nachfahren. Gut - man kann im Gegenzug die Anzahl der Sänger erhöhen. Man kann auch die Sänger besser (=steiler gestaffelt) positionieren. Aber wie schnell geraten dann die Proportionen aus den Fugen! Drittes Problem: der Kirchenraum und seine Akustik. Heilig Geist in Heidelberg ist während der Proben enorm hallig, um dann bei der Aufführung ganz trocken zu werden. Der Grund: das Publikum. Es schluckt den Hall wie ein riesiger Teppich.

 

Sehr viele waren gekommen am späten Sonntagnachmittag, bemerkenswert viele. Christoph Andreas Schäfer kennt seinen Kirchenraum und hatte die Instrumentalisten und den Chor auf diesen Akustikwechsel vorbereitet. Zudem saßen versierte Heidelberger Musiker im Orchester, allen voran die vorzüglichen Holzbläser. Präzise und geschlossen das Streicherensemble, herrlich knackig die Bässe in den Unisonopassagen. Dazu ein geschlossenes Solisten-Quartett mit der Sopranistin Iris Wagner-Göttelmann und ihrem schönen, geraden "Te decet Hymnus", der Altistin Sibylle Kamphues, dem Tenor Hans Jörg Mammel und dem Bass Johannes Happel  mit einem schlank-markanten Tuba mirum.

 

Aber zurück zur Balance und den Klangproportionen: hier haben wir schon Schreckliches erlebt und es lag meist an den Blechbläsern. Nicht was Sie denken, verehrter Leser! Spielt man als Trompeter oder Posaunist die vorgezeichnete Dynamik aus, kann man das Mozart- Requiem ganz schnell in eine Berlioz-Ouvertüre verwandeln. Hilflose Dirigenten haben dann nur ein Mittel: sie bremsen das schwere Blech aus, streichen Passagen, die dem Chor gefährlich werden könnten und schrauben die Dynamik bis auf einen Sturm im Wasserglas herunter. Dann wird Mozarts Requiem auf einmal ganz müde, verwaschen und flach - schrecklich, so etwas anhören zu müssen. Gute Dirigenten hingegen arbeiten an einem anderen Konzept: sie lassen die Partien auf Naturtrompeten und Barockposaunen ausführen, wie am Sonntag geschehen. Das Ergebnis: deutlich weniger Schalldruck, schlankeres Klanbild und gute Differenzierung, besonders beim Posaunentrio. Dafür blieben Wucht, Dramatik, scharfe Akzente, also alle Ecken und Kanten erhalten. Gewinner waren die Zuhörer und der Chor.

 

Christoph Andreas Schäfer hat das Mozart Requiem schon oft dirigiert. Wir erinnern uns besonders an eine bemerkenswerte Aufführung aus dem Jahre 2000, in der er das Werk durch eine moderne Komposition unterbrechen lies, just an der Stelle im Lacrimosa, in der die Chronologie des Originals abbricht. Dies tat er am Sonntag nicht. Möglicherweise war dadurch mehr Probenarbeit am Requiem möglich gewesen, denn der Chor war ausgezeichnet in Form, artikulierte präzise und war rhythmisch stets zur Stelle. Freiliegende Sopranpassagen gelangen ausgezeichnet, kritische Modulationen wurden ohne Wenn und Aber realisiert. Der Klang war auffällig verbessert und die Konzentration blieb gespannt bis zum Schluss. Die abschließende Fuge geriet damit zum dramatischen Höhepunkt. Respekt!

 

Kommen wir zum ersten Teil des Programms und damit zum Klavierkonzert KV 466: im ersten Moment erwartet man dem Requiem ähnliche Klangwelten. D-moll ist Mozarts finstere Tonart, so liest man es in den Biographien und gleich der irritierend synkopierte Beginn scheint dies zu bestätigen. Aber es gibt in diesem Werk eine Fülle von weiterreichenden Nuancen und Stimmungen. Dem Solisten des Abends, dem aus Ägypten stammenden Ahmed Abou-Zahra, gelang es, diese volle Palette auszubreiten und den ganzen Kosmos der zauberhaften Komposition dem Zuhörer zu erschließen. Abou-Zahra spielte im ersten Satz Beethovens bekannte klassische Kadenz, im Finale dann eine eigene virtuose Version, die den wunderschön klingenden neu erworbenen Flügel der Heiliggeistkirche voll zu Geltung brachte. Orchester und Solist gingen sensibel aufeinander ein, besonders hervorzuheben der adrenerg gespannte Mittelteil der Romanze. Christoph Andreas Schäfer (beg)leitete sicher und flexibel. Erwähnenswert hier: die Gestaltung des Abschlusses im Finale. Die scheinbar belanglose Trompetenphrase am Ende wuchs hier zu immenser Größe empor. Selten klang das obligatorisch erscheinende D-Dur so bedrohlich. Gefällig-banaler Abschluss oder drohende Fratze? Das nachfolgende Requiem war die Antwort. Summa Summarum: wer dabei war, hat eine große Aufführung erlebt, wer nicht da war, hat etwas verpasst.

 

H.H.S. Dareg, Bayrische Hubertuspost, (Journal für Blechbläser)