Einführung in Carl Heinrich Grauns "Der Tod Jesu"

von Dr. Harald Pfeiffer

1. Zur Entstehung und zum Erfolg

Carl Heinrich Grauns (1703/04-1759) "Tod Jesu" wurde am Mittwoch, 26. März 1755 im Berliner Dom uraufgeführt. Die Schwester des Königs Friedrich Wilhelm II., Prinzessin Anna Amalia, hatte die Dichtung und Disposition des Werkes angeregt. Fast ein Dreivierteljahrhundert führte die Berliner Singakademie die Passionskantate (Passionsoratorium) regelmäßig am Karfreitag auf. Das Werk war bis zum Ende des 19. Jahrhunderts nicht nur im protestantisch geprägten Teil Deutschlands eine der beliebtesten geistlichen Kompositionen. Schon bald erklang es auch in Basel, Wien, Kopenhagen, Stockholm, Rom, St. Petersburg und London. Keine andere Passionsmusik hatte je eine gleiche Bedeutung erlangt. Ein Mitglied der Berliner Singakademie unter K. F. Zelter berichtet:

"Unvergeßlich... die denkwürdigen Charfreitagsmusiken des Graun’schen Tod Jesu. Diese waren wie ein Gottesdienst. Am Morgen waren die Menschen zum Abendmahl gegangen, am Abend kamen sie... in die Singakademie... Wenn dann... sanft der Choral begann: ‚Du, dessen Augen flossen’ – da war gewiß kein Herz, das nicht der heilige Schauer dieses bedeutenden Moments andachtsvoll ergriffen hätte... Als später... an der Stelle der Graun’schen die Sebastian Bach’sche Passion gesungen werden sollte, war es beinahe wie die Einführung eines neuen Gesangbuches."

Die musikalische Fachpresse dagegen äußerte Mängel an religiösem Tiefgang des Textes und an musikalischer Qualität; es sei ein Beispiel für ‚Simplizität’.

2. Zum Text

Die Texte zu Grauns Passionsbericht, einer freien Nachdichtung der Leidensgeschichte Jesu, schrieb Carl Wilhelm Ramler (1725-1798), Dichter und Schauspieldirektor in Berlin. Er hatte ein Werk geschaffen, das exemplarisch den Stil der damals aufkeimenden "Empfindsamkeit" widerspiegelt. Die Texte der Choräle und Arien, Chorsätze und Rezitative sind aus der theologischen Perspektive jener Zeit zu sehen. Maßgebend dabei war die aufklärerische Neue Theologie (die sogenannte ‚Neologie’). Diese neue theologische Schule lehrte die radikale Moralisierung des Christentums. Gefragt war die Erfüllung der christlichen Tugenden wie Nächstenliebe, Wohltun und Geduld (Rezitation Nr. 16), Verzeihen (Duetto Nr. 17). Nur eine tugendhafte Haltung vermag das Seelenheil zu erlangen. Damit wurden die lutherisch-orthodoxen Glaubenssätze wie z.B. der Erlösungsgedanke völlig zurückgedrängt. Jesus, das Vorbild und Muster der Tugend, verkörpert die reine Menschenfreundlichkeit ("Bester aller Menschenkinder", Rezitativ Nr. 3). C. W. Ramler übernimmt das Vorbild-Motiv ausdrücklich im Chor Nr. 14 mit der Doppelfuge "Christus hat uns ein Vorbild gelassen...". In diesem Bibelwort (1. Petrus 2,21), das im Zentrum der Passionskantate steht, rühmt Ramler das "Wesen des Christentums". Der Dichter konzentriert den Passionsbericht ganz auf den Menschen Jesus. Die Passion wird so als ethisch beispielhafte Selbstaufopferung des Menschen Jesus neu interpretiert.

3. Zur Komposition

C. H. Graun vertont den Passionsbericht, indem er auf den bilblischen Bericht und weitgehend auf dramaturgische Handlung verzichtet (einen Evangelisten, biblische Personen oder Turbaechöre kennt er nicht). Er schildert dennoch das Passionsgeschehen indirekt vom Standpunkt des betroffenen Betrachters aus. Choräle, Arien, Chorsätze und Rezitative wechseln in wohlgeordneten Proportionen einander ab. Die in der Kreuztonart A-Dur stehende, im stile antico geschriebene Doppelfuge "Christus hat uns ein Vorbild gelassen..." weist symbolisch auf die drei Kreuze auf Golgatha hin. Die sechs Choräle erscheinen im schlichten vierstimmigen homophonen Satz. Sie stammen größtenteils aus älteren Kirchenliedern; der erste Choral erklingt in der vertrauten Melodie "O Haupt voll Blut und Wunden". Hinsichtlich der Satztechnik der Chöre erweist sich Graun mit seiner Vorliebe für Seufzerfiguren, Synkopen und neuer Rhythmik als Komponist der homophonen Satzstruktur. Die Arien weisen mit ihren virtuosen Koloraturen ins Italien des bel canto wie auch in den musikalischen "Sturm und Drang". Grauns "Tod Jesu" ist eine Schöpfung der Übergangsepoche vom Barock zur Klassik.

 

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