Festschrift der Heidelberger Studentenkantorei
(Auszüge vom Dezember 2000)


Inhaltsverzeichnis
Grußworte:
Vorwort der Chorsprecherin Birgit Seele
Oberbürgermeisterin Beate Weber
Landesbischof Dr. Ulrich Fischer
Dekan Dr. Steffen Bauer
"Altkantor" Peter Schumann
Albumblatt von Oskar Gottlieb Blarr

Beiträge
Die ersten 25 Jahre
Die zweiten 25 Jahre
Festrede von Dr. Harald Pfeiffer

Die restliche Beiträge finden Sie in der kompletten Festschrift (PDF-Datei ca. 2,9 MB)

 


Vorwort

100 Semester Heidelberger Studentenkantorei - dieses Jubiläum ist natürlich Anlaß zurückzublicken auf die 50jährige Chorgeschichte: auf die Gründung des Chores durch Bruno Penzien im Jahr 1950 und dessen 20jährige Tätigkeit als Leiter der Studenten-kantorei, die sich anschließende - fast 30 Jahre währende - Ära unter Peter Schumann und die letzten beiden Jahre unter dem derzeitigen Heiliggeistkantor Christoph Andreas Schäfer. Neben diesen geschichtlichen Informationen möchte diese Festschrift durch verschiedene Beiträge, Fotos, Kritiken allen Freunden der Heidelberger Studentenkantorei Einblick in die Arbeit des Chores geben. Wir, die derzeit aktiven Chormitglieder, hoffen, daß auch in Zukunft unsere Konzerte in der Heiliggeistkirche viel Interesse beim Publikum wecken werden, sei es bei Aufführungen von a cappella-Musik, traditionellen Oratorien oder zeitgenössischen Werken. Ganz herzlichen Dank allen Autoren, die durch ihre Beiträge in dieser Festschrift ihre Verbundenheit mit der Heidelberger Studentenkantorei zum Ausdruck bringen.

Birgit Seele

(Chorsprecherin)

Zur Inhaltsübersicht

 


Grußwort der Oberbürgermeisterin der Stadt Heidelberg

50 Jahre oder 100 Semester? Wie man es auch betrachten mag: Die Heidelberger Studentenkantorei feiert Jubiläum. Das ist ein Grund zur Gratulation (ich bin sicher, dass sich die vielen Freunde und Freundinnen der Kirchenmusik in Heidelberg und Umgebung meinen Glückwünschen gerne anschließen werden) und ein Anlass zum Danksagen. Seit fünf Jahrzehnten vermittelt uns die Studentenkantorei mit jedem ihrer Konzerte Musikgenuss ganz außergewöhnlicher Art. Die Aufführung traditioneller Oratorien bestimmt die Chorarbeit ebenso wie die Interpretation von Werken zeit-genössischer Komponisten.

Der große Erfolg der Heidelberger Studentenkantorei ist in erster Linie im Können ihrer Sängerinnen und Sänger begründet, aber auch im vorbildlichen Einsatz ihrer Chorleiter. Die für die Heidelberger Studentenkantorei musikalisch Verantwortlichen -drei Personen in einem halben Jahrhundert - waren und sind die Kantoren der Heiliggeistkirche und somit jeweils in besonderem Maße als Kirchenmusiker qualifiziert. Das galt und gilt für Bruno Penzien, der die Heidelberger Studenten-kantorei 1950 ins Leben rief und bis 1970 betreute, ebenso wie für Peter Schumann, der danach 28 Jahre lang den Chor leitete, und für Christoph Andreas Schäfer, der 1998 das Amt des Heiliggeistkantors übernommen hat.

Die Jubiläumsfeierlichkeiten der Heidelberger Studentenkantorei sehen mehrere Höhepunkte vor: Seinen Liebhaberinnen und Liebhabern möchte der Chor einen Ausschnitt seiner musikalischen Arbeit auf einer CD präsentieren. Für jene, die das unmittelbare Konzerterlebnis vorziehen, ist das Festkonzert zum Jahresabschluss gedacht, zu dem auch alle ehemaligen Sängerinnen und Sänger eingeladen sind. Schließlich gehört auch noch eine Konzertreise nach Ungarn im April 2001 zu den Jubiläumsaktivitäten.

Damit setzt die Studentenkantorei die Tradition ihrer Auslandsreisen fort, die sie unter anderem schon nach Nizza, Breslau, Mailand, Salzburg und Budapest führten und dem Chor Gelegenheit gaben, sich als musikalischer Botschafter Heidelbergs zu profilieren. Auch dafür danke ich den Sängerinnen, Sängern und Chorleitern sehr herzlich. Ich wünsche der Heidelberger Studentenkantorei ein gutes Gelingen aller Jubiläums-veranstaltungen und darüber hinaus noch viele künstlerische Erfolge in den kommenden Jahren.

Beate Weber

(Oberbürgermeisterin der Stadt Heidelberg)

Zur Inhaltsübersicht

 


Grußwort des Landesbischofs

Das 50jährige Jubiläum der Heidelberger Studentenkantorei weckt bei mir lebhafteste Erinnerungen an einen mich intensiv prägenden Abschnitt meines Lebens, denn von 1970-1977 war ich Mitglied dieser Kantorei, und in der Folgezeit hatte ich immer wieder Gelegenheit, bei Aufführungen und Aktionen der Kantorei mitzuwirken: so etwa bei den alljährlichen Aufführungen des Weihnachtsoratoriums von J.S. Bach am 2. Weihnachtstag, bei der bedeutsamen Polenreise mit Mendelssohns "Elias" im Jahr 1984, bei jener denkwürdigen Geburtstagsfeier zu Bachs 300. Geburtstag am 21. März 1985, während meines Kontaktstudiums im Sommersemester 1986 mit F. Liszts "Christus" und bei manchen Gottesdiensten, die ich in meinem Dienst als Landesbischof in der Heiliggeistkirche gehalten habe.

So beinhaltet der Glückwunsch zum 50jährigen Chorjubiläum für mich zugleich viel Biographisches, zumal ich das 25jährige Jubiläum im Februar 1976 seinerzeit als einer der Chorsprecher mit vorbereitet und ausgestaltet habe und deshalb auch manche Jubiläumsgefühle der Kantoristinnen und Kantoristen gut nachempfinden kann. Da wird sich Stolz über in 50 Jahren Geleistetes mischen mit manch kritischer Betrachtung, wie weit es gelungen ist, das Erbe des Chorgründers Bruno Penzien zu bewahren. Da wird sich Freude über neue Impulse, die Kantor Christoph Schäfer seit nun zwei Jahren setzt, mischen mit wehmütiger Erinnerung an die weiterführende, oft ungestüm provokative Kraft des langjährigen Chorleiters Peter Schumann. Da wird das Ringen um die geistliche Ausrichtung des Chores zusammentreffen mit dem musikalischen Gestaltungswillen mancher säkular ausgerichteter Sängerinnen und Sänger. Und da wird ein auf Verfestigung hinwirkendes Harmoniebedürfnis einer verschworenen Chorgemeinschaft in Spannung treten zum Bemühen um das Erreichen neuer studentischer Kreise.

Ich wünsche der Heidelberger Studentenkantorei, dass sie diese Spannungen fruchtbar in das Feiern ihres 50jährigen Jubiläums einbeziehen kann. Und ich wünsche, dass auch in den nächsten Jahren und Jahrzehnten Impulse zur Bewahrung kirchen-musikalischer Tradition und zur Erneuerung der Kirchenmusik von diesem Chor ausgehen mögen - soli deo gloria.

Ihr Alt-Kantorist und Landesbischof

Ulrich Fischer

Zur Inhaltsübersicht

 


Studentenkantorei

50 Jahre Verkündigung des Wortes Gottes

Wenn die Studentenkantorei am 30. Dezember 2000 in einem großen Festkonzert ihres 50jährigen Bestehens gedenkt, dann wird über diesem Tag die Zusage aus dem Neuen Testament stehen: "Unser Herr Jesus Christus und Gott, unser Vater, der uns geliebt und uns einen ewigen Trost gegeben hat und eine gute Hoffhung durch Gnade, der tröste eure Herzen und stärke euch in allem guten Werk und Wort" (2. Thessalonicher 2, 16f). Dieser Vers drückt sehr schön aus, um was es geht, wenn die Studentenkantorei das Wort ergreift, um das Wort Gottes zum Klingen zu bringen: um Trost und Stärkung. Vielfältig, aber doch buchstäblich geht es uns unter Haut, wenn mit den großen Meistem der Musik Verkündigung betrieben wird. Wer von den Kirchenbesucherinnen und Kirchenbesuchern aus nah und fern verbindet in seiner Erinnerung an die Heiliggeistkirche nicht vor allem das Erleben von großartigen kirchenmusikalischen Aufführungen. Wir als Heiliggeistgemeinde haben allen Grund froh und dankbar auf 100 Semester Studentenkantorei zurückzublicken und gleichzeitig die Weichen zu stellen, für immer weitere Semester. Möge die Verbindung zwischen Chor und Gemeinde gefestigt werden. Möge immer deutlich werden, wie sehr das eine mit dem anderen zu tun hat. In diesem Sinne sei allen Chorleitem und allen Sängerinnen und Sängern und den sonstigen Mittuenden gedankt. Niemand vermag wohl die Stunden zu zählen, die da in ehrenamtlichen Engagement zusammengekommen sind, um möglichst vielen Menschen das nahe zu bringen, wovon wir alle leben: von Gottes Trost und seiner Stärkung. Und gerade weil wir uns auf diesen Trost und auf diese Stärkung verlassen, dürfen wir frohgemut auf das blicken, was Gott für uns in unserer Zukunft bereithält.

Dr. Steffen Bauer

(Pfarrer)

Zur Inhaltsübersicht

 


Grußwort

Nach meiner fast 30-jährigen Amtszeit als Kirchenmusiker an der Heidelberger Heiliggeistkirche grüße ich zum Jubiläum "Hundert Semester Heidelberger Studentenkantorei" alle diejenigen, die dieses Fest wahrnehmen, besonders jedoch die vielen "Ehemaligen", mit denen ich in sehr vielen Konzerten hervorragend musizieren konnte. Es war das kostbare Erbe meines Vorgängers Bruno Penzie, der vor hundert Semestern den Grundstein zu diesem sehr guten, leistungsorientierten Ensemble legte. Als ich das Amt antrat, übernahm ich bewusst all das, was erprobt und tradiert war: die pünktlich beginnenden Montagsproben, die Probendisziplin (bei mir bis zum Ausschluss derer, die für die weitere Arbeit ungeeignet erschienen) und die Konzerttermine, die ihren festen Platz im Heidelberger Kulturleben hatten.

Die Heidelberger Studentenkantorei ist ein Konzert-Chor, der sich geistliche Musik zu Eigen macht und mit seinen Konzerten tausende von Menschen erreicht, die mit dem restlichen Angebot kirchlicher Arbeit weniger anfangen können. Die Kirchenleitung in Karlsruhe und die Stadt Heidelberg haben mich in dieser Chorarbeit und darüber hinaus beachtenswert unterstützt.

Wenn Albert Schweitzer von der Orgel als der zweiten Kanzel spricht, so meine ich aufgrund meiner Erfahrung an Heiliggeist: die Heidelberger Studentenkantorei hatte erstes Kanzel-Niveau. Was mich mit besonderem Stolz erfüllte: wir haben viel zeitgenössische Musik ur- und erstaufgeführt, oft gekoppelt mit traditionellen Werken. "Nicht-Dissonanz-Willige", die nur die "schönen" Sachen mitsingen wollten, bekamen daher von mir für die weitere Zeit ihres Heidelberger Aufenthaltes Freisemester attestiert.

Die Leistungsfähigkeit unseres Ensembles ermöglichte uns Konzertreisen nach Frankreich, Polen, Italien, Österreich und Ungarn.

Nicht zu verheimlichen ist die Tatsache, dass sich aus der Heidelberger Studentenkantorei ein weiteres Ensemble mit großem Erfolg entwickelt hat: der "Vocalissimo-Chor", von "unserem" Klaus Petzel gegründet und von mir weitest-gehend unterstützt.

Schließlich danke ich allen sehr herzlich, dass ich mit Ihnen so einzigartig musizieren konnte. Dieses wünsche ich Ihnen allen, wo immer Sie singen, nicht zuletzt meinem Nachfolger Christoph A. Schäfer mit "seiner" Heidelberger Studentenkantorei!

Nota bene: das hier Beschriebene bezieht sich auf die Zeitspanne WS 1970 - SS 1998.

Peter Schumann

Zur Inhaltsübersicht

 


Albumblatt für Christoph Andreas Schäfer

und die Heidelberger Studentenkantorei

Normalerweise sind die Komponisten, deren Werke wir heute singen und spielen längst tot. Als mein Konfirmator mich fragte, was ich werden wolle, lautete meine Antwort: "Komponist". Er: "Das geht nicht. Dazu mußt Du erst tot sein". Ich: "Wieso?". Er: "Komponist kann man nicht werden wollen, Komponist wird man nur Kraft der Akklamation durch die Musikgeschichte". Und er legte mir dar, daß Bach, Mozart, Beethoven, selbst Brahms und Johann Strauß, alle schon lange tot seien. Ich war ver-blüfft, aber nicht überzeugt und entschlossen, der erste lebende Komponist zu werden. Von Bach, meinem ersten Lieblingskomponisten hatte ich gehört, daß er fast alle seine Musik, die er in seinen Kirchen oder auch bei Hofe spielte, selber komponiert hatte. Das war mein Vorbild. Und so wollte ich auch meinen Weg gehen. Das war nicht ein-fach, denn im Studium lernte ich, daß es noch viel mehr tote Meister gab, und mit deren Werken - nicht mit meinen - sollte ich meiner Gemeinde und den Hörern dienen. Unverdrossen schrieb ich aber meine Stücke und setzte sie aufs Programm. Damit stieß ich - zumal in der Kirche - nicht immer auf Zustimmung.

Nachts an meinem kleinen Radio in Großenwörden hinter dem Deich hörte ich aber viel Musik von lebenden Komponisten. Da wußte ich, daß ich auf dem richtigen Wege war. Nun mußte ich nur noch meine Umgebung überzeugen; das war aber nicht immer leicht. Denn: was ich wollte und was ich quasi heimlich hörte, - Hindemith, Schoenberg und auch den als "Niggermusik" verschrieenen Jazz - klang ganz anders als die gelobten und beliebten alten Meister und die "unsterbliche Musik". Mit diesem Widerspruch mußte ich leben. Heute ist das Gottlob anders. Im Laufe der Zeit gab es Leute, die meine Stücke nicht nur duldeten, sondern es gab auch welche, die Stücke von mir spielten, ja, sogar welche, die neue Kompositionen bei mir bestellten, z.B. die Düsseldorfer Sinfoniker, die Mannheimer Christuskirche, die Christuskirche Karlsruhe, das Mannheimer Orchester und allerlei Ensembles in Israel, in Japan usw. Zu den Chören, die Stücke von mir gesungen haben, gehört auch die Heidelberger Studentenkantorei. Es war für den jungen Leiter Christoph Andreas Schäfer sicher ein Wagnis meinen "Lobgesang der Maria" aufzuführen und am Karfreitag 1999 sogar mein groß besetztes Oratorium JESUS-PASSION. Man stelle sich vor: der neue Kantor führte einen lebenden und in Heidelberg sicher unbekannten Komponisten auf! Dazu gehörte viel Mut und viel organisatorisches Geschick. Es war für mich der vielleicht bewegendste Moment des letzten Jahres, in der Heiliggeistkirche meine Passion zu hören. Die Leistung der Kantorei, die sich neue Noten zu eigen machen mußte, ist zu bewundern. Zu bewundern waren auch die Kinder, die Meister Christoph zusammen-gelockt und für die Sache begeistert hatte. Die Sängerinnen und Sänger von Heiliggeist hatten eine friedliche Schlacht gewonnen und - wenn ich den Stimmen, die zu mir drangen, glaube - eine begeisterte Hörerschaft gefunden.

Großes Kompliment und herzlichsten Dank.

Oskar Gottlieb Blarr

Zur Inhaltsübersicht

 


Die ersten 25 Jahre

Im Jahre 1975 hat Hannes Esser, der verdienstvolle Chronist, Organisator und Reisemarschall der Heidelberger Studentenkantorei ein interessantes Bändchen über die ersten 50 Semester herausgegeben. Neben einer Fülle von statistischen Daten bei Aufführungen, Mitwirkende, Solisten und Orchester findet man darin auch eine Reflexion über Musik an Heiliggeist. Er beschreibt sehr eindrucksvoll den etwas traurigen Zustand der Kirchenmusik in Heidelberg, wohl stark beeinflusst durch die reformierte Tradition in dieser Stadt, die ein so reiches musikalisches Leben wie in Leipzig oder Dresden nicht zuließ. Da das Bedürfnis nach großer Chormusik aber auch in Heidelberg vorhanden war, bildeten sich im 19. Jahrhundert auch in Heidelberg große Musikvereine, die sich der Pflege geistlicher Werke annahmen. An Heiliggeist tat sich wenig. Die Kirchenleitung war in Karlsruhe, die Universität hatte ihre Gottesdienste in der Peterskirche. Die Heiliggeistkirche war zudem geteilt, eine Mauer teilte den Chorraum vom Langhaus in eine evangelische und eine katholische Kirche, beide aber klein, trotz des herausragenden Äußeren. Erst als 1936 die Mauer fiel, kam die Bedeutung und Schönheit dieser Kirche für die Stadt und die Landeskirche zum Vorschein. Nun war Heiliggeist die größte Kirche der badischen Landeskirche geworden.

Für Musik war die Zeit aber nicht reif. Schon bald herrschte Krieg, sodass die musikalische Entwicklung erst nach dem Krieg, den die Altstadt ja unbeschadet überstanden hatte, beginnen konnte.

Der Kantor an Heiliggeist war nach dem Kriege Helmut Tramnitz, der sich in dieser Zeit vor allem darum kümmerte, daß eine einigermaßen spielbare Orgel beschafft werden konnte. 1950 ging Tramnitz nach Hamburg. Im gleichen Jahr trat Bruno Penzien sein Amt als hauptamtlicher Kantor an Heiliggeist an.

Damit begann ein reichhaltiges musikalisches Leben in der Heidelberger Altstadt. Der große Raum und die zentrale Lage in der Stadt forderten dies geradezu heraus. Zwar dauerte es noch 30 Jahre, bis auch eine dementsprechende Orgel eingebaut wurde, aber einem regen musikalischen Leben tat dies keinen Abbruch, zumal nicht nur Bruno Penzien, sondern auch sein Nachfolger mit Spaß und Engagement diese Tradition gepflegt haben.

Am Sonntag, dem 10. Dezember 1950 veranstaltete Bruno Penzien sein erstes Konzert unter dem Titel "Alte und neue Adventsmusik", in dem die "Kantorei bei Heiliggeist" Adventschoräle von Hans Leo Haßler, Melchior Franck, Hugo Distler und Ernst Pepping sang. Wenig später nannte sich der Chor "Heidelberger Studentenkantorei". Er bestand neben Gemeindemitgliedern vor allem aus Studenten der Universität und anderer Hochschulen der Stadt. (Dies hat sich in den 50er Jahren bis heute wenig geändert, auch wenn einige Chormitglieder im Laufe der Jahre in der Studenten-kantorei in Ehren ergraut sind.)

Mit dem Wachsen des Chores stiegen auch die Ansprüche an das Programm. 1955 wurde die erste Johannes-Passion aufgeführt, 1956 Haydn’s Schöpfung. Bereits 1957 wurde die h-moll-Messe zum ersten Mal aufgeführt. Die Chronik der 60er Jahre liest sich wie ein Kompendium anspruchsvoller Chormusik mit den Höhepunkten 1969, als im Februar Verdis Requiem gesungen wurde und im April eine Konzertreise nach Frankreich mit Bach’s h-moll-Messe stattfand, mit Konzerten in Nizza, Marseille und Montpellier, der Patenstadt von Heidelberg.

Nicht lange danach erkrankte Bruno Penzien. Die Krankheit schien fast überwunden, als er im März 1970 starb.

Die Arbeit mit dem Chor wurde durch Christoph Kühlewein fortgesetzt, bis Ende 1970 ein Nachfolger gefunden wurde, der fast 30 Jahre lang die Studentenkantorei geführt hat und der in dieser Zeit unüberhörbare Akzente im Heidelberger Musikleben gesetzt hat. Peter Schumann. setzte das Konzertprogramm fort, erweitert es aber auch durch viel Modernes, manchmal auch Provokantes, Herausforderungen an Chor und Publikum, die manchen auch Probleme bereiteten. Aber diese Provokationen waren stets darauf gerichtet, das Wort, den Text klarer zu machen, den Inhalt hervorzuheben. Wem der Inhalt gleichgültig war, der hatte die Provokation auch nicht verstanden.

1971 gab es die nächste Konzertreise nach Südfrankreich mit vier Aufführungen des Bach’schen Weihnachtsoratoriums in Nizza, Monaco, Marseille und Montpellier. Zwei Jahre später die Johannespassion in Avignon, Montpellier, Marseille und Monaco. Im Jahre 1974 begann eine später noch häufig durchgeführte zweite Aufführung eines Konzertes in Gelnhausen in der wunderschönen (aber auch kalten) Marienkirche. Das Jubiläumsjahr 1975 war angefüllt mit Konzerten des großen Chores wie auch des Motettenchores. Doch der Höhepunkt zum 15jährigen Jubiläum war im Februar 1976 die denkwürdige Aufführung von Frank Martins Oratorium "Golgatha".

Zur Inhaltsübersicht

 


Die zweiten 25 Jahre Studentenkantorei

Meine erste Begegnung mit der Heidelberger Studentenkantorei war im April 1975. Ich war gerade aus dem Ausland zurückgekehrt und hatte im Rhein-Neckar-Raum eine neue Stelle angetreten. Eines Abends schlenderte ich durch die Heidelberger Altstadt und blieb am Schaukasten der Heiliggeistkirche nach alter Gewohnheit stehen. Schließlich hatte ich eine Chorvergangenheit beim Bachchor an der Marktkirche in Hannover vorzuweisen. Eine Ankündigung im Schaukasten elektrisierte mich: Für den nächsten Montag wurde der Probenbeginn für Frank Martins "Golgatha" bekannt ge-geben. Dieses Werk hatten wir in Hannover unter Schmerzen lange geprobt, aufgeführt und lieben gelernt.

Ich nahm also in der Woche darauf meinen Klavierauszug unter den Arm und meldete mich zur Probe. Peter Schumann war so angetan, dass da jemand kam, der das Werk schon einmal gesungen hatte, dass ich nie vorsingen musste. Den Sommer über probte ich also Golgatha in Heidelberg. Ich nahm auch an dem legendären Konzert "Aus der Mottenkiste" teil, wo Bruno Dumbeck in Frack von der Kanzel aus Winnetou III rezitierte und wir dazu das Ave Maria und den Abendsegen von Karl May sangen. Ich wurde dann an den Hauptsitz meiner Firma nach München versetzt und musste mein Gastspiel bei der Studentenkantorei beenden, allerdings unter Verlust eines Klavierauszugs von Golgatha, den ich irgend jemandem geliehen hatte, aber wem? Zwei Jahre später fand ich eine neue Stelle, wieder im Rhein-Neckar-Raum.

Da ich vorläufig noch ohne Familie in der Gegend war, meldete ich wieder bei Peter Schumann an. Es wurde der Messias geprobt. Diese Proben gipfelten in einer gigantischen Aufführung zu Weihnachten ("... mit 160 Sängern..."), die so einen Andrang erlebte, dass sie Anfang Januar 1978 wiederholt werden musste.

In den 70er Jahren war es nicht einfach, einen so großen Chor bei der Stange zu halten. Jede Art von Autorität wurde in Frage gestellt, die individuelle Meinung stand höher im Kurs als Disziplin und Unterordnung. Aber wie soll man gute Musik machen, bei der ein Funke auf den Zuhörer überspringen soll? Musik und Demokratie sind sehr ungleiche Geschwister. Peter Schumann kämpfte um die Disziplin und Aufmerksamkeit seines Chores. Sein überzeugendstes Argument waren die Aufführungen. Aber zwischendurch versuchte er es auch mit profaneren Mitteln, seinen Chor zu bändigen. Das traf auch manchmal Unschuldige und führte zu Verlusten. Manchmal waren es wirklich die Parkplatzprobleme in der Altstadt oder es war wirklich der Nachbar, der geschwätzt hatte. Wer diese Phase überstanden hatte, war gegen manchen Schick-salsschlag immun.

Das Jahr 1980 war besonders für Peter Schumann von größter Bedeutung. Endlich konnte die große Chororgel in der Heiliggeistkirche den Spielbetrieb aufnehmen. 10 Jahre hatte er darauf hingearbeitet. Bei der Einweihung war der Chor mit der Kantate "Höchst erwünschtes Freudenfest" beteiligt. Später wurde "Memoria" von Joachim Herbold aufgeführt, ein Auftragswerk für die neue Orgel, im Jahr darauf noch einmal in einer zweiten Fassung. Der Sommer brachte noch eine fröhliche "Carmina Burana" mit der Besonderheit, dass der Kinderchor aus lauter Chorkindern bestand. Eine reife Leistung für eine Studentenkantorei.

Wichtig waren natürlich für den Zusammenhalt des Chores Konzertreisen. Diese schöne Tradition konnten wir 1981 wieder aufnehmen. Südfrankreich war wieder das Ziel. Gemeinsam mit dem Kantatenorchester führten wir zweimal in Nizza die Johannespassion auf. Unvergessen bleiben die jazzigen Improvisationen auf Jockels Geige am mitternächtlichen Strand oder die Trompetenklänge von Philipp Uhle in den Altstadtgassen von Nizza. Da neben der Kunst auch das Baden nicht zu kurz kam, war die Reise ein voller Erfolg, auch wenn die Matisse-Kapelle in Vence geschlossen war und der Bus Mühe hatte, aus den Gassen wieder herauszufinden. Die Heidelberger Zeitungen, damals gab es noch zwei, berichteten ausführlich.

Ein weiterer Höhepunkt war 1984 die Konzertreise nach Breslau. Mit genau 100 Sängern führten wir den Elias in Breslau und in Hirschberg im Riesengebirge auf. Dazu kamen noch 2 a-capella-Konzerte in Breslau mit Motetten von Bach und Brahms sowie Messiaen und Penderecki. Damals war eine solche Reise wirklich noch etwas Besonderes. Die Busfahrt mit endlosem Warten in Görlitz, die Unterkunft in einem Studentenheim am Stadtrand, die Verpflegung in der Mensa waren teilweise gewöhnungsbedürftig, wurden aber überstrahlt von der Herzlichkeit des Empfangs und der Dankbarkeit des Publikums. Wer wird vergessen, wie eine Geigerin aus dem Orchester zu mitternächtlicher Stunde auf dem verregneten und leeren Markplatz ohne Taxis eine grüne Minna der Miliz zu einem Massentaxi umfunktionierte, das uns in unser "Hotel" zurückbrachte. Eine andere Gruppe überredete einen Straßenbahnfahrer, der eigentlich ins Depot wollte, sie bis nahe an das Studentenheim zu bringen. Mit Hilfe von Hand verstellter Weichen gelang das auch.

Oder die improvisierte Geburtstagsfeier im Studentenheim bei (westlichem) Bier und (östlichem) Wodka, wo fast der gesamte Chor in ein Zimmer passte. Auf dieser Reise sollen angeblich drei Chorehen gestiftet worden sein!

Das Jahr 1985 sollte ein Höhepunkt werden, schließlich war es das 300ste Jahr nach Bach’s Geburt. Einige Chormitglieder hatten mit Peter Schumann eine besondere Ehrung für den Thomaskantor sich ausgedacht. Zu seinem Geburtstag wollte Musik rund um die Uhr erklingen. (Ein hierzu vorgesehener gesonderter Bericht ist leider ver-schollen). Dieses klingende Geburtstagsfest über den ganzen Tag hinweg wurde in den nächsten Jahren mit großem Erfolg bei Mitwirkenden und Zuhörern fortgesetzt und ist heute ein fester Begriff im Heidelberger Musikleben.

Auch das Jahr 1986 hat seine besondere Bedeutung für den Chor und die Heiliggeistkirche. Die Universität wurde 600 Jahre alt. In die Kirche kam ein Teil der im 30jährigen Krieg geraubten Bibliotheca Palatina für eine Ausstellung auf allen drei Emporen zurück. Für den Chor bedeutete das ein Ausweichen auf die Peterskirche, aber auch Mitwirkung bei Jubiläumsgottesdienst mit der Bach-Motette "Der Geist hilft unsrer Schwachheit auf" zur Predigt von Carl Friedrich von Weizsäcker. Zum Abschluss der Ausstellung sangen wir die "Carmina Burana" und erhielten vom Rektor der Universität eine Jubiläumsmedaille.

Das Weihnachtskonzert (Der Messias) erhielt in diesem Jahr einen besonderen Akzent. Peter Schumann war im Dezember nach Japan eingeladen worden. So mussten die Proben von Klaus Petzel gehalten werden. Es war ein mitreißendes Erlebnis, dass der Schüler den Meister auch im Konzert vertreten durfte.

Im gleichen Jahr begann eine Dekade von Events, die zwar nicht unter "Studentenkantorei" liefen, aber doch großen Einfluss auf das Leben des Chores hatten. Es waren so eine Art Chorferien mit kleinen Konzerten unter Leitung von Klaus Petzel in Klöstern und Kirchen nördlich der Pyrenäen, in der weiteren Umgebung von Carcassonne. Unser damaliges Chormitglied Isabel de Rochetauld stammte von einer Domäne nahe Carcassonne, wo wir untergebracht werden konnten und 10 Jahre lang die Landschaft, die Geschichte dieser Region, die Natur und die Kultur erlebten. In jedem Jahr waren es 20 bis 30 Chormitglieder mit Freunden, Kindern und Tieren, die durch diese intensiven Ferien zum "harten Kern" der Studentenkantorei wurden.

Auch ohne dass es besonders erwähnt wurde, spielten im Leben des Chores die bekannte Oratorienliteratur eine wesentliche Rolle. Die Bach’schen Oratorien, die von Mozart und Mendelssohn, Brahms und Händel standen immer auf dem Programm (siehe auch die Statistik über unsere Aufführungen). Aber auch Raritäten wurden erar-beitet, wie "Christus" von Franz Liszt (1986) "Jonas" von Hans Voigt (1987), "Die Israeliten in der Wüste" von C. Ph. E. Bach (1988), das Requiem von Salieri (gemeinsam mit dem von Mozart, 1991), die "Neue programmatische Messe" von Hans-Rudolf Johner 1991, das "Requiem Chorale" von Joh. Nep. David /(1995), Experimente, Verfremdungen, Neues zur Uraufführung, dafür war Peter Schumann und sein Chor stets zu haben. So war der Chor auch an Uraufführungen von Komponisten aus der Region beteiligt: Uwe Lohrmann "Gloria" 1986, Wolf Dittmann "Der tolle Mensch" 1994, Martin Messmer "Messe" 1992. Häufig hat Peter Schumann besondere Effekte dadurch erzielt, daß vorzugsweise moderne Stücke in traditionsreiche Werke eingebaut wurden. Selbst manches altgediente Chormitglied musste da bisweilen tief Luft holen. Dass die Engel im Weihnachtsoratorium statt des Ehre-Chores unvermittelt dasselbe auf lateinisch aus der h-moll-Messse sangen, war ja noch gut zu verkraften. Wenn plötzlich in dem gleichen Chor Kurt Hessenbergs "Herr, mache mich zum Werkzeug deines Friedens" erklang, oder in den Passionen das "Agnus dei" von Penderecki oder "O sacrum convivium" von Olivier Messiaen erklangen, dann blieben diese Aufführungen Mitwirkenden und Zuhörern noch lange im Gedächtnis.

Auch in dieser Zeit machten wir kleinere und größere Konzertreisen. So sangen wir im Altenberger Dom im Bergischen Land oder in einer Kölner Altstadtkirche. Konzertreisen gingen nach Mailand (Matthäuspassion) und Salzburg (Messias) sowie Lockenhaus und Budapest mit dem Deutschen Requiem.

Die neunziger Jahre begannen mit der deutschen Wiedervereinigung, das war erfreulich, aber auch mit dem Golfkrieg, das war es weniger. Peter Schumann nutzte seine Position an der größten Kirche Heidelbergs zu einem eindrucksvollen Bekenntnis für den Frieden. Dazu sang der Chor "Friede auf Erden" von Arnold Schönberg und Hilde Domin rezitierte aus ihren Gedichten. Ähnliche Veranstaltungen fanden gegen Ausländerfeindlichkeit und Gewalt mit dem späteren Landesbischof von Berlin-Brandenburg, Wolfgang Huber statt oder zum 50. Todestag von Dietrich Bonhoeffer. Seit Mitte der 90er Jahre war abzusehen, dass der 65. Geburtstag Peter Schumanns am 29. Juni 1998 eine Zäsur sein würde, auf die Bürokratie der landeskirchlichen Verwaltung größten Wert legte. Zu oft hatte unser Peter auf Unzulänglichkeiten oder Ungereimtheiten hingewiesen, oft mit sarkastischem Humor.

So wurde beschlossen, was sonst praktisch nicht vorkommt, dass zum Tag des Ausscheidens der Nachfolger bereit stehen sollte. Es sollte also keine Vakanz entstehen und auch kein "sich selbst vertreten".

Musikalisch bedeutete der 65. Geburtstag eine grandiose h-moll-Messe für alle Mitwirkenden und Zuhörer.

Die Amtszeit Peter Schumanns endete am 30. Juni 1998 mit einem furiosen "Grande Finale". Die Grußworte, teils verbaler, teils musikalischer Natur nahmen kein Ende. Niemand konnte sich der Wirkung der Zeremonie entziehen, als kurz vor Mitternacht Peter Schumann den Taktstock ergriff und mit seiner Studentenkantorei und dem Kantatenorchester das "Dona nobis pacem" aus der h-moll-Messe dirigierte. Mit Schlag 12 Uhr, mitten im Stück, übergab er den Taktstock Christoph Andreas Schäfer, seinem Nachfolger, der das Stück zu Ende dirigierte. (Die Mär von dieser tollen Feier in der Heiliggeistkirche hatte sich auch schnell bei der Heidelberger Polizei herumgesprochen. Als ein sehr bekannter Flötenprofessor in Handschuhsheim zwischen 3 und 4 Uhr morgens in eine Polizeikontrolle geriet und auf die Frage, wo er herkäme, wahrheitsgemäß antwortete "Aus der Heiliggeistkirche", hörte er die Antwort: "Vom Schumann seim Fescht?" und konnte weiterfahren. Was er, allerdings mit weichen Knien auch getan haben soll.)

Eine neue Ära

Anfang 1998 wurde das Berufungsverfahren für den Nachfolger von Peter Schumann durchgeführt. Es gab viele Bewerbungen, dazu war die Stelle inzwischen zu bekannt, und reizvoll war sie natürlich auch. 8 Bewerber kamen in die engere Wahl, mit denen der Chor dann ungefähr 50 mal "Warum" singen durfte. Chorprobe war auch ein Kriterium.

Aus dieser Gruppe wurde Christoph Andreas Schaefer ausgewählt, der im August 1998 sein Amt als Heiliggeistkantor antrat. Gelegenheit zum Beschnuppern gab es aber erst nach den Semesterferien. Neugierig war man auf den Neuen natürlich sehr. Würde er wie, oder ganz anders als Peter Schumann auftreten? Würde er alles umkrempeln, Traditionen weiterführen oder nicht?

Es begann mit der 2. Sinfonie von Mendelssohn, dem "Lobgesang". Das nächste große Werk war die "Jesuspassion" von Oskar Blarr mit einer Aufführung am Karfreitag 1999 in Heiliggeist und zuvor am Palmsonntag in Düsseldorf unter der Leitung des Komponisten.

Damit hatte Christoph Andreas Schaefer eine Duftmarke gesetzt, die es in sich hatte. Nach den Liebesliederwalzern von Brahms im Sommersemester wurde für Totensonntag Verdis Requiem einstudiert. Unterstützung erhielten wir von einem Chor aus Gomel in Weißrussland. Vom Ergebnis kann man sich mit Hilfe der CD, die in Heiliggeist zu haben ist, überzeugen.

Das Jahr 2000 begann mit der Matthäuspassion, streng doppelchörig und barock, eine Aufführung, die viele sehr stark angerührt hat.

Die Studentenkantorei hat den Wechsel seiner Leitung gut überstanden. Es hat keinen Knacks gegeben, die Fluktuation war auch nicht größer als sonst. Das Verhältnis zu Pfarrer und Gemeinde ist gut. Wir freuen uns, dass Heiliggeist jetzt Sitz des Heidelberger Dekans ist und mit Dr. Steffen Bauer ein alter Bekannter Dekan gewor-den ist.

Wir freuen uns auf die Zukunft.

Jürgen Hempel

Zur Inhaltsübersicht

 


Festrede zum 50jährigen Jubiläum der

Heidelberger Studentenkantorei

(am 29. Dezember 2000 im "Prinz Carl")

von Dr. Harald Pfeiffer

Meine sehr verehrten Damen und Herren, liebe Musikfreunde, liebe ehemalige und jetzige Mitglieder der Heidelberger Studentenkantorei! An Herbert von Karajan, der sein Publikum auch optisch zu beeindrucken verstand, rühmte man die außerordentliche Faszinationskraft. Als er zu einem seiner Konzerte mit den Berliner Philharmonikern den Taktstock hob, flüsterte eine junge Frau ihrer Nachbarin zu: "Toll, jetzt fängt er an zu faszinieren!"

Es muß wohl auch vom Gründer der Heidelberger Studentenkantorei etwas Faszinierendes ausgegangen sein, von Bruno Penzien. Er muß seine Chorsänger gefesselt haben. Seine charismatische Seite betont der damalige Feuilletonist Hansdieter Werner: "Mit seiner Energie, seinem Mut, seiner Bescheidenheit [...] hatte er den [...] Chor- oder Orgelkonzerten eine ganz persönliche Anziehungskraft verliehen." (RNZ 30.3.1980)

Der Aufbau der Studentenkantorei um 1950 fällt mit dem Beginn einer neuen Ära zusammen. Es herrscht Aufbruchstimmung: politisch, wirtschaftlich, kulturell. Man könnte mit dem einstigen Heidelberger Studenten Carl Zuckmayer sagen: "Eine neue Phase des Lebens und der Arbeit hatte begonnen, nicht die leichteste." Und ich füge hinzu: aber eine schöpferische.

- Da wird Heidelberg zur Großstadt (1946) und Hans-Georg Gadamer Heidelberger Bürger (1949);

- da ruft der Komponist Wolfgang Fortner die Konzertreihe "Musica-viva" ins Leben und arbeitet mit dem Studio Heidelberg des Süddeutschen Rundfunks zusammen (1951);

- da starten die 1. Heidelberger Filmkunsttage im Schloßkino (1951);

- da eröffnet die größte deutsche Herzheilstätte auf dem Kohlhof (1951);

- bald darauf hält Thornton Wilder, der weltberühmte Romancier, einen Vortrag in der Neuen Universität (1954);

- da weiht der 1. Bundespräsident Theodor Heuss den neuen Heidelberger Haupt-bahnhof ein (1955);

- da heizt Louis Armstrong mit seiner goldenen Trompete und typisch rauchigen Stimme im "Cave" 54 ein, dem ältesten Studentenjazzkellers Deutschlands.

In jenen Nachkriegsjahren war bei vielen Menschen der geistige Hunger oft größer als der leibliche. Vor allem Jugendliche suchten geistige Orientierung. Die Heidelberger Studentenkantorei wollte ihnen bei dieser Suche nach Bildungsinhalten behilflich sein. Sie war von Anfang an bemüht, kulturelle Werte namentlich durch Werke Johann Sebastian Bachs zu vermitteln.

Es trifft für die Kantoreiarbeit zu, was sich einst der Universitätsgründer Ruprecht I. für die neugeschaffene Universität Heidelberg persönlich gewünscht hat, nämlich daß "dort der Glaube vertieft wird, [...] die Geister erleuchtet werden und der Verstand des Menschen gefördert wird." In Heidelberg hat die Chormusik Tradition. Überhaupt ist interessant, daß die Musikpflege in unserer Stadt älter ist als die Pflege der Wissenschaften. Denn da oben auf dem Schloß ließ sich schon 40 Jahre vor der Universitätsgründung die kurfürst-liche "Sengerey" hören, wohl die erste höfische Kantorei in Deutschland. Hier sangen bereits die bekannten "Heidelberger Liedmeister" mit, die über 400 Lied- und Chorkompositionen schreiben. Und wußten Sie auch, daß in der Heiliggeistkirche genau 100 Jahre lang (1702-1801) eine regulierte Kirchenmusik erklungen ist, nämlich im damals zugemauerten katholischen Chorraum? Hier sang der Chor anspuchsvolle Chormusik, Motetten, Messen, Passionen und andere konzertante Kirchenmusik von Pergolesi, Hasse, Johann Christian Bach u.a.

Nicht zu vergessen ist Heidelbergs berühmtester Privatchor vom Juristen Anton Friedrich Justus Thibaut. Sein exklusiver Singverein mit Gastsängern wie Schumann, Zelter und Mendelssohn probte Anfang des 19. Jahrhunderts 26 Jahre lang wöchentlich die großen Chorwerke deutscher und italienischer Meister, gab nie öffentliche Konzerte und genoß dennoch "europäischen Ruf".

Ganz anders dagegen ging es bei den gigantischen Oratorienaufführungen im 19. Jh. im Schloßhof zu. Diese Heidelberger Musikfeste waren monumentale Open-air-festi-vals. Der Musikverein der Universität präsentierte gemeinsam mit vielen auswärtigen Chören und Orchestern 10 Jahre lang ein Mega-Chorfest mit bis zu 6000 Besuchern. Chormusik hat in unserer Stadt Geschichte. - Es ist das Verdienst von Bruno Penzien, erstmalig eine regulierte evangelische Kirchenmusik in der Heiliggeistkirche ein-gerichtet zu haben. Von seinem Amtsvorgänger Kantor Helmut Tramnitz übernahm er 1950 die "Kantorei zu Heiliggeist". In intensiver musikalischer Arbeit erwuchs daraus die "Heidelberger Studentenkantorei".

Bruno Penzien formt sich die Kantorei zu seinem "Instrument". Sie wird, so der Musikhistoriker Dr. Otto Riemer, "zu einem klassischen Vorbild des Chorgesangs." (Heidelberger Tageblatt 11.2. 1969). Seine Kantorei bildet neben dem Bachchor eine wichtige Säule des Heidelberger Musiklebens. Alle chorischen Highlights von Bach, Händel und Mozart, Haydn, Beethoven und Brahms, Verdi und Bruckner finden stets hohe Anerkennung. Auf Bachs "h-Moll-Messe" folgen Einladungen nach Kassel und Frankfurt. In Berlin gibt der Chor Motettenkonzerte (1963), zehn Tage nach dem Berlin-Besuch durch den US-Präsidenten John F. Kennedy an der Mauer. - Bruno Penzien ist es gelungen, eine enge Bindung zwischen seiner Kantorei und der Stadt Heidelberg wie auch der Universität herzustellen. So gestaltete der Motettenchor der Kantorei die universitäre 400-Jahr-Feier des Heidelberger Katechismus 1963 in der Heiliggeistkirche mit.

Nebenbei bemerkt: Der Chorleiter würzte die Chorproben mit seinen spontan geborenen Bemerkungen. Viele Chormitglieder haben sie in ihren Klavierauszügen am Rande notiert, wie etwa bei der "h-Moll-Messe": "Immer hersehe, in dem Auge’blick, wo Sie denke, sind Sie schon verkehrt." Oder: "Die Tön’ stimme all, abgesehe von dene, die unrein sind." Und bei Bachs Kantate "Ich hatte viel Bekümmernis": "Des isch ne wahnsinnig unrentable Kantate: Nur an einer Stell’ Trompede, un’ die muß mer auch noch voll bezahle." Das muß einem schwäbischen Dirigenten ja auffallen.

Die Konzerte seiner letzten beiden Schaffensjahre (1968 und 1969) krönen Penziens Arbeit: Beethovens "Missa solemnis", Verdis "Requiem" und Bachs "h-Moll-Messe". Mit der "h-Moll-Messe" im Gepäck geht die Studentenkantorei auf Reisen. In den Kathedralen von Nizza, Marseille und Montpellier, Heidelbergs Partnerstadt, präsen-tiert sie exzellente Aufführungen.

Die französische Presse ist des Lobes voll: "Magnifique interpretation... absolument remarquable..." (Le Méridional, Marseille 30.4.1969). "...Grandiose exécution..." (Midi Libre, Montpellier 30.4.1969).

Zum 44. Deutschen Bachfest in Heidelberg (Juni 1969) interpretiert Penzien mit seiner Kantorei Arthur Honeggers "Totentanz". Nach dem Konzert sagt er, ganz mit sich selbst zufrieden: "Jetzt habe ich eigentlich alles erreicht, was ich unbedingt mal auf-führen wollte." Vier Wochen später (20. Juli 1969) steht er - niemand hat es geahnt -zum letzten Mal in der Öffentlichkeit vor seiner Studentenkantorei. Er dirigiert Bachs

Motette "Lobet den Herrn alle Heiden".

Zwei Jahre zuvor ernennt ihn die Universität zum Ehrenbürger der Ruperto Carola (Dezember 1967). Die Begründung lautet: "... dem Meister der Orgel und bedeuten-dem Musiker, dem hervorragenden Chorleiter, dem Gründer und sachtreuen Leiter der Studentenkantorei, der seit vielen Jahren in seinen vorbildlichen Aufführungen der großen Werke aus der Tradition der geistlichen Musik ebenso wie von Werken sakraler Musik unseres Jahrhunderts die musikalische Bildung der musizierenden wie der zuhörenden Studenten gefördert hat und damit dem geistigen Kontinuum unserer Kultur dient..."

Nach Penziens Tod (13.3.1970) führt ein ehemaliges Kantoreimitglied die Chorarbeit qualifiziert weiter: es ist der Musiklehrer Christoph Kühlewein. Mit Brahms’ "Requiem" und Mozarts "c-Moll-Messe" überbrückt er die Vakanzzeit.

Zum Nachfolger im Kantorenamt wird im Herbst 1970 Peter Schumann gewählt. Der 37jährige neue Organist und Chorleiter tritt seinen Dienst während der 68er Studentenbewegung an: Demonstrationen, Wasserwerfer und Tränengas der Polizei um die Heiliggeistkirche, an die Neue Universität gesprüht der Spruch "Unter den Talaren der Muff von tausend Jahren." Peter Schumann ist in dieser angespannten Lage genau der richtige Kirchenmusiker an Heiliggeist. Sehr schnell wird er zu einem der be-deutendsten Förderer und Interpreten zeitgenössischer und experimenteller Musik. Von ihm, dem Nonkonformisten und Querdenker, hält Otto Riemer ein Jahr später im Tageblatt fest: "Schon jetzt wird der radikal neue Kurs sichtbar, der in Zukunft in Heiliggeist führend sein wird." (1971) Wohlwollend unterstützt haben ihn dabei Pfarrer Rudolf Kehr und Hannes Esser, der als jahrzehntelanges Chormitglied und Chor-sprecher unermüdlich für die Interessen der Studentenkantorei und den Orgelneubau eingetreten ist.

Immer sucht Schumann das Sensationelle, er braucht das Spektakuläre. Er bekennt ein-mal (1971): "Neben der Erhaltung der ‘alten’ Werte liegt mir das Neue sehr am Herzen, wobei es bis zur Provokation gehen kann." Ihn kennzeichnen Originalität, oft ohne Rücksicht auf Verluste, Wagemut und die Vorliebe für eine Konzeption der Gegensätze. So werden große Chorwerke fast immer "verzahnt" aufgeführt. D.h., in die Werke eines Bach werden zeitgenössische Sätze eingeschoben, die eine klangliche wie inhaltliche Kontrapunktierung bewirken. So z.B. stammelt der Chor Choräle von Mauricio Kagel mitten hinein in Bachs "Johannespassion". Peter Schumanns Anliegen ist, "das Publikum mit unbequemer Musik aufzurütteln, damit es wirklich wieder zuhört und genießt". Sein Ziel: Musik soll betroffen machen, wachrütteln, zum Mitdenken anregen.

Schumanns spleenige Ideen haben viele gefesselt und seine Attacken nicht wenige vergrault. Sind es seine skurrilen Einfälle, seine unberechenbaren Überraschungen, die die Massen anziehen? Wie z.B. beim Weihnachtsoratorium 1976, wenn fast 2000 Besucher aufmerksam zuhören? "Dutzende fanden keinen Sitzplatz mehr. Sie standen geduldig über zweieinhalb Stunden lang" (RNZ 21.12.1976), bemerkt Hansdieter Werner. Viele erinnern sich noch an die langen Besucherschlangen bis in die Hauptstraße hinein. Von Händels "Messias" heißt es in der Presse: "Das gab es an der Heiliggeistkirche wohl noch nie: ein schon Tage zuvor ausverkauftes Konzert"(RNZ 20.12.1977). Im Feuilleton liest man: "Faszinierende 150 Minuten mit 160 Sängern".

Der Chorleiter und seine Studentenkantorei streichen denn auch Lorbeeren ein. Bei Bach-Motetten wird ihnen bescheinigt: "...das war vollendete A-cappella-Kunst" (1971). Und zu Mendelssohns "Elias": "Was hier zu hören war..., trug den Stempel des Vollendeten." (1971). Oder bei einer weiteren Aufführung des "Messias" erfolgt das Prädikat: "... eine einsam phänomenale Leistung der Studentenkantorei."

Schumanns Unternehmungsgeist ist manchmal dreist, seine Phantasie erlahmt nie. Er initiiert "Tage für neue Kirchenmusik" (1973) mit Chormusik und sieben Orgeln. Gegen diesen Supersound waren die nahen Straßenbahnen, Diskotheken und abgesägten Auspuffrohre endlich mal machtlos. Da der Dirigent die Verblüffung liebt, läßt er schon mal "die wahre Nostalgie Triumphe feiern". Ein Chorkonzert mit dem Titel "Mottenkiste" (1975) bot "Schöne Musik und Schnulzen aus der guten, alten Zeit", darunter auch "Vergiß mein nicht" und "Ave Maria" von Karl May.

Die Kantoreikonzerte im Ausland werden überall begeistert aufgenommen: In Nizza, Monaco, Marseille und Montpellier Bachs "Weihnachtsoratorium" (1971); in Avignon, Montpellier, Marseille und Monaco Bachs "Johannespassion" (1973); im polnischen Breslau Mendelssohns "Elias" (1984); in Mailand Bachs "Matthäuspassion" (1989); in Salzburg Händels "Messias" (1994); im österreichischen Lockenhaus und in Budapest Brahms’ "Requiem"(1995).

Zum 600jährigen Universitätsjubiläum steuert die Studentenkantorei Carl Orffs "Carmina Burana" in der Heiliggeistkirche bei (19.10.1986). - Zu den Höhepunkten der vielen ad-hoc-Aktionen zählt seit dem 21. März 1985 vor allem Bachs Geburtstag, der wird im 3-Stunden-Takt früh ab 6 Uhr bis spätabends musikalisch durchfeiert. Und die Studentenkantorei ist dabei. Ebenso auch das Heidelberger Kantatenorchester unter Dr. Werner Ball, der mit seinem Ensemble die Kantoreiaufführungen jahrzehntelang mitgestaltet. Unvergeßlich ist auch das Festkonzert an jenem 3. Oktober 1990 ("Tag der deutschen Einheit"), als sich viele Choristen und Musiker in der völlig überfüllten Heiliggeistkirche zu Bach-Werken einfanden.

Bei aller meisterhaften Interpretation der großen und schweren Chorwerke bis hin zu Frank Martins "Golgotha" darf ein Charakteristikum nicht fehlen: Es ist Peter Schumanns "Dramaturgie des Chorals". Die Bach-Choräle gestaltet er stets "sinn-bezogen", läßt sie "energisch,... enthusiastisch" singen. Er weiß um den aktuellen Sinngehalt der Choraltexte für den Zeitgenossen heute. Er akzentuiert den protestan-tischen Choral - ein wesentliches Merkmal evangelischer Identität!

Auch Peter Schumann würzte die Chorproben mit goldenen Worten. So bei der Kantate "Vom Reiche Gottes", in der es heißt: "Es ist nichts Gesundes an meinem Leib": "Da freut sich der Mediziner da hinten!" Oder bei der "Johannespassion": "Dem Baß II fehlt durchweg so’n christlicher Treibsatz!" Und: "Ihr sollt nicht quatschen! Immer diese Theologen! Hebt Euch das auf für die Kanzel!"

Fast 30 Jahre hat der leidenschaftliche Vollblutmusiker Peter Schumann das Kultur-leben in der Universitätsstadt wesentlich geprägt. Auch durch ihn ist Heidelberg zur Musikstadt geworden. Für seine außerordentlichen Verdienste um die traditionelle und zeitgenössische (Kirchen-) Musik wird ihm der Titel "Kirchenmusikdirektor" ver-liehen, und er erhält - wie sein Vorgänger - das Bundesverdienstkreuz.

Zu seinem Nachfolger im Kantorenamt wird im Sommer 1998 Christoph Andreas Schäfer gewählt. Er interpretiert im Bachjahr 2000 alle drei Passionen des Thomas-kantors und führt die Tradition der Orgelkonzerte in Heiliggeist weiter. Als Heidel-berger Erstaufführung bringt er die "Jesus-Passion" von dem Düsseldorfer Oskar Gottlieb Blarr, seinem früheren Lehrer, am Karfreitag 1999 zu Gehör. Bei der Barockmusik bevorzugt er historische Instrumente. Die romantische Chormusik a-cappella spielt beim ihm eine wesentliche Rolle.

Ich wünsche der Heidelberger Studentenkantorei und ihrem Leiter auch in Zukunft viel Freude beim Musizieren ad gloriam Dei und zur "Recreation des Gemüthes"! Die Studentenkantorei, sie lebe hoch ad multos annos!

Zur Inhaltsübersicht